Die herausragende Miniserie «Deutsches Haus» hält das verlogene Schweigen im Nachkriegsdeutschland fest.
Konstantin Sakkas
4 min
Eva Bruhns (Katharina Stark) ist Anfang 20, ihre Eltern führen das Gasthaus «Deutsches Haus» in Frankfurt am Main. Sie landet als Aushilfsübersetzerin beim Oberlandesgericht Frankfurt, um Zeugenaussagen aus dem Polnischen zu übersetzen. Es ist der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, der vor sechzig Jahren begann.
Angeklagt sind 22 Personen, unter ihnen der SS-Hauptsturmführer Robert Mulka, der Stellvertreter des 1947 hingerichteten Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höss. Die «Strafsache gegen Mulka und andere» ist eine Revolution, rechtsgeschichtlich und sozialgeschichtlich. Angestossen durch den legendären Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (in der Serie gespielt von Thomas Bading), wurden hier nicht nur vor grosser Öffentlichkeit Täter aus dem Fussvolk des NS-Regimes zur Verantwortung gezogen; vor allem landete der Begriff «Auschwitz» und mit ihm das Präzedenzlose des Völkermords an den Juden erst richtig im Bewusstsein der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Kein Achtundsechzig ohne 1963.
Die kleinen Verlogenheiten des Wirtschaftswunders und die grosse Verlogenheit des Schweigens über den Völkermord, von dem niemand etwas gewusst hatte, führt die Miniserie «Deutsches Haus» (auf Disney+) in einer Kongenialität zusammen, die man nicht erwarten würde, gespiegelt in der Transformation Evas von der charmanten Naiven zur selbstbewussten Post-Adenauer-Frau. Dass am Ende Eva als Einzige aus ihrem näheren Umfeld ohne individuelle Schuld dasteht, ist eine ganz eigene, schöne Pointe. Denn Eva hiess ja auch die allererste Frau, und auch sie war (zumindest anfänglich) ohne Schuld.
Die erste «Probevergasung»
«Dann führten sie die 850 sowjetischen Gäste in die Herberge in den Keller hinab. Sie warfen das Licht in den Keller. Am nächsten Morgen waren die meisten der Gäste erleuchtet», übersetzt sie ihre erste Zeugenaussage – um sich dann erst verdruckst, dann erschüttert zu korrigieren: Es heisst nicht Herberge, sondern Block, nicht Gäste, sondern Häftlinge, nicht Licht, sondern Gas. – Es ist die Beschreibung der ersten «Probevergasung» mit Zyklon B in Auschwitz im Herbst 1941. Die Anklageverlesung zur Verfahrenseröffnung bringt das Drehbuch in voller Länge (beeindruckend als Beisitzer, dem dabei die Stimme bricht, Matthias Luckey); es ist der Sittengesetz gewordene Sadismus, der sich in ihr ausspricht.
Die Stärke der Serie ist es, diese nach dem Krieg in den Alltag der Wirtschaftswunderwelt übergegangene Unmenschlichkeit aus den narrativen Nebenschauplätzen überzeugend zu extrapolieren. Annette Hess, von der Romanvorlage und Drehbuch stammen, kennt die Epoche nur zu gut. Schliesslich stand sie schon hinter «Ku’damm 56» mit seinen Fortsetzungen. «Deutsches Haus» wirkt wie ein infernalischer Spin-off dazu. Dass der Stoff die Ambiguitäten von Tätern und Mitläufern so authentisch vermittelt, liegt ausserdem am Cast.
Denn «Deutsches Haus» ist auch eine Art Abschiedsgala einer deutschen Schauspielergeneration, die in den bleiernen Adenauer-Jahren heranwuchs und in den seichten Kohl-Jahren zu Ruhm gelangte – und deren Vertreter hier einem Publikum, das ihre Namen kaum mehr kennt, zeigen, wie sie spielen können.
Meisterhaft gibt Mehr-als-Ulknudel Anke Engelke Mutter Bruhns, «resolut», aufgestiegenes, stets um den Stand besorgtes westdeutsches Kleinbürgertum («Wir müssen uns nicht schämen», «Wir haben alles abbezahlt»). Dass sie einst in Auschwitz lebten, wo der Vater (Hans-Jochen Wagner) als Koch peripherer Teil der Vernichtungsmaschinerie war («Du hast diese Mörder auch noch gemästet»), muss ihr Tochter Eva qualvoll aus der Nase ziehen.
Den Versandhaus-Unternehmer Schoormann (was wie Neckermann klingen soll) spielt mit müheloser Grantigkeit der profilierte Henry Hübchen. Der einzige Bonze hier war mal Kommunist und KZ-Häftling; er ist das schlechte Gewissen der Serie und eine Vaterfigur für Eva. Sohnemann Jürgen (Thomas Prenn), der mit der eigentlich nicht standesgemässen Gastwirtstochter Eva verlobt ist, hat seine eigenen dunklen Kriegsgeheimnisse. Dass die ihn hemmen, mit ihr zu schlafen, ist das eine; dass er ihr patriarchal das Arbeiten verbieten will (und kann – es ist 1963), etwas anderes.
Eva setzt sich darüber hinweg und fährt mit der Gerichtsdelegation nach Oswiecim, wo sie mit dem Staatsanwalt David Miller (Aaron Altaras) schläft, der als remigrierter Jude an seiner Überlebensschuld leidet. Als er einer Prostituierten (Alice Dwyer) klarmacht, dass der Freier vor ihm der haftverschonte Angeklagte Oswald Kaduk gewesen sei, «ein sadistisches Schwein», keift sie ihn an: «Ich glaub nicht mehr an irgendeine Menschlichkeit. Tief innen drin ist jeder Mann ein Schwein.» Aber dann desinfiziert sie sich die Vagina.
Einer der schlimmsten Sadisten
Heiner Lauterbach, der als Wohnzimmer-Macho der Nation berühmt wurde, brilliert als Wilhelm Boger: Einst einer der schlimmsten Sadisten von Auschwitz, zeigt er sich in der Haft als milder, ja weltoffener Vater, der seiner Tochter die Heirat mit dem Gastarbeiter Aldo gegen den Willen seiner Narzissen-Gattin erlaubt («Wir haben neue Zeiten, Therese»). Und Iris Berben hat einen beeindruckenden Auftritt als überlebende Häftlingsärztin Rachel Cohen. Ihre Aussage kulminiert in einer Generalanklage der feisten, unbewegten Täter, unter ihnen der Lagerapotheker Hartlieb. Dann läuft sie aus dem Gericht und in den Verkehr.
Im Gefangenentransport will derweil ein unterwürfiger Beamter den Apotheker beschwichtigen: wie toll der Radetzkymarsch des Häftlingsorchesters damals doch geklungen habe, nicht wahr? Was dem Unterscharführer einfalle, sich mit ihm gemeinzumachen, fährt ihn da Hartlieb an. «Verzeihung, Sturmbannführer!» Postnazistische Klassengesellschaft noch im Angesicht von «lebenslänglich».
Diese tausend Facetten von Nachkriegsverlogenheit und individueller Schuld, die so weit verbreitet war, dass sie genauso eine kollektive war, auf fünf Episoden von je einer knappen Stunde zusammenzudrängen, kann scheitern; den Macherinnen – neben Hess die Regisseurinnen Randa Chahoud und Isa Prahl – von «Deutsches Haus» gelingt es. Und so kommt diese Serie in einer Zeit, in der Judenhass sich wieder ungeniert öffentlich und offen zeigt, genau richtig.
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