Dichtung: Ein Ruhmeslied für W. H. Auden und seine Verse - WELT (2024)

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Auch wer noch etwas von Auden gehört hat, könnte zumindest eines seiner Gedichte kennen. In dem Film „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ nämlich wird sein großartiger „Funeral Blues“ rezitiert. Die Stelle ist schnell markiert: Der dicke fröhliche Typ mit dem Bart ist gerade tot umgefallen. Herzinfarkt. Sein hagerer Freund steht allein in einer sehr kalten, sehr nüchternen, sehr protestantischen Kirche vor dem Sarg. Und mit Tränen in den Augen liest er von einem Blatt diese Verse vor:

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„He was my North, my South, my East and West / My working week and my Sunday rest, / My noon, my midnight, my talk, my song; / I thought that love would last for ever: I was wrong.“ Es ist beinahe unmöglich, davon nicht ergriffen zu sein.

Wozu Dichtung eigentlich da ist

Die letzte Strophe geht dann so (ich zitiere die schöne Übersetzung von Hans-Dieter Gelfert): „Wozu die Sterne noch: löscht aus ihr Licht. / Den Mond packt ein, verschont die Sonne nicht. / Kippt aus den Ozean, fegt weg den Wald. / Denn alles, was mich wärmte, ist jetzt kalt.“ Diese Filmszene erinnerte an eine der wichtigsten Aufgaben der Dichtung: Sie spricht für den, dem die Worte fehlen. Weil ihm ein Schmerz die Kehle zuschnürt, weil er nur noch stammeln kann. Oder schreien. Oder schweigen.

W. H. Auden (gesprochen: Dabbel-Ju Äitsch Ohden) – er gehört zu den Großen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Man kann ihn ohne Bedenken neben die Gipsbüsten von T. S. Eliot, Ezra Pound, Brecht und Benn stellen. (Manche von ihnen überragt er sogar.) Geboren wurde er heute vor 100 Jahren in York; seine beiden Großväter waren Pfarrer, seine Familie war „anglokatholisch“, also katholisch in der Form, aber anglikanisch nach dem Glauben – das ist wichtig, weil Auden später sagte, seine Liebe zur Sprache und zur Musik sei auch durch die Gottesdienste seiner Kindheit geweckt worden. Der früheste intellektuelle Einfluss aber war wohl Freud, dessen Bücher er in der Bibliothek seines Vaters entdeckte, der Arzt war.

1925 fing er an, in Oxford zu studieren (erst Biologie, dann englische Literatur), und wie so viele Oxford-Studenten der Dreißigerjahre wurde er Marxist. Schon damals schrieb er Gedichte, und weil drei seiner Freunde aus Oxford – Cecil Day Lewis, Spephen Spender und Louis MacNeice – auch Dichter und Marxisten waren, wurden sie häufig in einem Atemzug genannt: ein lyrisches Kleeblatt. Tatsächlich waren sie alle sehr verschieden und gingen auch bald jeder seines Weges.

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Kampf im Spanischen Bürgerkrieg

Deutlich ist aber das prägende Generationenerlebnis: Spanien. Der Kampf der linken Republik gegen die faschistischen Putschgeneräle. Der Verrat der westlichen Demokratien an der Republik. Und weil Auden 1937 für sieben Wochen nach Spanien ging – eigentlich wollte er einen Rettungswagen fahren, aber er fand sich als Radiopropagandist und bald an der Front wieder –, weil er also selber nach Spanien ging, sah er mit eigenen Augen die Wahrheit: dass es nämlich auch auf der republikanischen Seite Folterkeller gab und die Kommunisten ihre andersdenkenden Genossen hinter der Front ermordeten.

George Orwell hat Auden einen Vers in seinem Gedicht „Spain“ übelgenommen: Was heute nottue, schrieb Auden dort, sei „das bewusste Auf-sich-nehmen der Schuld beim notwendigen Mord“. Im Rückblick erscheint eher gut, dass Auden nicht nach einem Euphemismus für das Wort „Mord“ suchte.

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Neben, über und unter dem Politischen das Privatleben: W. H. Auden war schwul. In den Zwanzigerjahren traf er einen Schulfreund wieder, einen gewissen Christopher Isherwood; mit ihm zusammen schrieb er mehrere Theaterstücke und ein Reisebuch. (Auden glaubte, dass Journalismus und Poesie zusammengehören.)

Die beiden verband eine erotische Freundschaft, die durch lange Eskapaden unterbrochen wurde – und natürlich verbrachte er, wie damals wohl jeder schwule Engländer, ein paar Monate in Berlin. (1928. Später sagte er, seine Monate in Berlin hätten seinen Blick für die politischen Spannungen der Epoche geschärft.) In den Dreißigerjahren heiratete er Erika Mann: eine Scheinehe, um ihr zu einem britischen Pass zu verhelfen.

Auden und Isherwood gingen in die USA

1939 bestiegen Auden und Isherwood den Dampfer nach New York – sie trafen just an dem Tag in Amerika ein, als die spanische Republik fiel. Das haben ihm viele Briten bis heute nicht verziehen: Er sei feige gewesen, hieß es, einfach abgehauen, als es brenzlig wurde. Bitteschön. Das kann man so sehen. Aber halten zu Gnaden: Auden ist jedenfalls nicht vor den Schrecken des „Blitz“ geflohen – als er und Isherwood sich einschifften, war noch keine einzige Bombe auf London gefallen. Und vielleicht hat kein Dichter, Brecht eingeschlossen, früher und eindringlicher vor dem Faschismus gewarnt als eben dieser W. H Auden. Sein Gedicht „Musée des Beaux Arts“, das wir in der Übersetzung von Wolf Biermann übernehmen – es entstand im Dezember 1938 – zeugt davon.

Kaum in Amerika angekommen, schrieb er sein „September 1, 1939“. Der russische Exil-Poet Joseph Brodsky hat über Audens lyrische Reaktion auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine ganze Vorlesung gehalten, in der er das Gedicht auseinandernahm – Zeile um Zeile: „I sit in one of the dives / Of Fifty-Second Street / Uncertain and afraid / As the clever hopes expire / Of a low dishonest decade“.

Auden hat dieses Gedicht später verworfen, und tatsächlich enthält es – bei aller Achtung für Joseph Brodski, der überhaupt nur aus Bewunderung für Auden begann, auf Englisch zu dichten – Verse, die purer Kitsch sind (nicht zuletzt die berühmte Aufforderung „We must love one another or die“). Aber das Gedicht hat auch seine großen Momente. Und nach einem anderen historischen Septembertag, dem 11. September 2001, kramten es viele aus staubigen Anthologien hervor und lasen mit neuen Augen.

Seine Verse sind immer wieder aktuell

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Das geht bei Auden besonders gut: Man kann ihn immer wieder lesen. Er war ein poeta doctus im allerbesten Sinn, anspielungsreich, mit allen Wassern der Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte gewaschen, aber nicht abgebrüht, kein Zyniker. Er überlebte künstlerisch sogar das, was Dichtern normalerweise das Genick bricht, die Rückkehr zum religiösen Glauben seiner Kindheit. „If equal affection cannot be, / Let the more loving one be me“, heißt es in einem seiner späten Gedichte. (Wenn gleiche Zuneigung nicht sein kann, dann will ich derjenige sein, der mehr liebt.) Ein schöneres Lebensmotto kann man sich kaum vorstellen.

Wenn Auden aber so ein bedeutender Dichter war, wie kommt es dann, dass sein Name heute so selten genannt wird? Womöglich deshalb – aber das ist jetzt wirklich nur eine Vermutung –, weil er kein Schwein war. Er hat nicht wie Ezra Pound in faschistische Mikrophone gebrüllt, dass ihm das mit dem Judenumbringen entschieden zu langsam gehe. Er hat nicht wie Brecht den Ermordeten der Moskauer Prozesse nachgerufen, wenn sie unschuldig seien, verdienten sie erst recht, getötet zu werden.

„The rats are underneath the pile. / the jew is underneath the lot.“ (Die Ratten sind unter dem Haufen. Der Jude ist unter der Menge.) T. S. Eliot hat das gedichtet, Auden wäre ein solcher Dreck nie aus der Feder geflossen. Er schrieb stattdessen den ergreifenden „Refugee Blues“, in dem es heißt: „Saw a poodle in a jacket fastened with a pin, / Saw a door opened and a cat let in: / But they weren’t German Jews, my dear, but they weren’t German Jews.“ (Wo ist eigentlich in Israel die Straße, die nach ihm benannt wäre?)

Begraben liegt W. H. Auden in Österreich, in dem Kaff Kirchstetten im Wienerwald. Dort war er seit den Fünfzigern jedes Jahr zur Sommerfrische, saß abwechselnd in den drei Gasthäusern des Dorfes, aß Schinkenbrote und trank Bier dazu. Kirchstetten ist auch die Grabstätte eines anderen Poeten – des Dichters Josef Weinheber, der ein glühender Nazi war und Selbstmord beging, als die Rote Armee einrückte; er wurde in seinem eigenen Garten begraben. So liegen sie nun beide dort, der Nazidichter und der antifaschistische Humanist. Im Grab hören alle Unterschiede auf.

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Author: Carlyn Walter

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