Album der Woche mit Kee Avil: Billie Eilishs schönster Albtraum (2024)

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Album der Woche mit Kee Avil: Billie Eilishs schönster Albtraum (1)

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Album der Woche:

Kee Avil – »Spine«

»Before you know, I’ll be gone again«: Ehe du dich versiehst, bin ich wieder verschwunden, sang Vicky Mettler (unter dem Künstlernamen Kee Avil) vor zwei Jahren zum Schluss ihres Debütalbums. Und so wäre es fast auch gekommen.

Für das tief in den dunklen und ranzigen Falten des Gemüts schürfende »Crease« wurde Mettler damals mit Extrem-Songwriterinnen wie Fiona Apple verglichen. Das geschmackssichere Popkritik-Magazin »The Quietus« schrieb, das Album klinge, »als ob jemand eine PJ-Harvey-Platte zerschmettert und dann beim Versuch, sie wieder zusammenzukleben, Mist gebaut hätte.« Ein Kompliment natürlich.

Der Sound der aus Montreal stammenden Künstlerin erinnerte manche auch an die späten, geisterhaften Avantgarde-Experimente von Scott Walker. Bei ihren Konzerten, unter anderem auch in Berlin beim »Kiezsalon« oder auf dem A’larme!-Festival, begeisterte Kee Avil als intensive Erscheinung, die ihrer Gitarre verstörende, faszinierende Geräusche entlockte und dazu monotone, fesselnde Texte vortrug.

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Und dann schrieb sie fast zwei Jahre lang kein einziges Stück Musik mehr.

In einem Statement zu ihrem zweiten Album beschreibt Mettler eine Zeit der totalen künstlerischen Lähmung – bis dann plötzlich doch wieder etwas zu kribbeln begann in all der Taubheit. »Die Wörter gingen wie auf Zehenspitzen durch mein Gehirn. Die Arbeit an ›Spine‹ musste schnell passieren, damit ich nicht wieder in der Zeit erstarrte«, sagt sie. Es entstand in nur wenigen Wochen, und genauso dringlich und nervös fühlt es sich auch an.

»Spine«, also Wirbelsäule oder Rückgrat, ist ein sehr passender Titel für dieses Album, denn die Musik von Kee Avil ist tatsächlich oft wie ein Schauer, der einem über den Rücken huscht – manchmal aus Wohlgefühl, öfter aber eher aus Unbehagen. Schon auf »Crease« wohnte den Post-Punk-Derivaten Mettlers etwas Unheimliches, aus dem Urschlamm der Seele Kriechendes inne; für »Spine« hat sie ihre Kompositionen nun noch radikaler auf wenige Elemente reduziert, noch offener, forschender gestaltet.

Während das Vorgängeralbum sehr kontrolliert und synthetisch gewesen sei, solle sich »Spine« nun »roh und knochig« anfühlen, sagt Mettler. »Ich wollte Songs schreiben, die ich auf der Gitarre singen kann, um die Energie der Folkmusik mit trockener, scharfer Elektronik zu kombinieren.«

Das klingt simpler, als es sich in Songs wie »Felt«, »Gelatin« oder »The Iris Dry« anhört, in denen die Stofflichkeit von Filz oder Gelatine im unberechenbaren Rhythmus eines MRT-Scanners atomisiert wird. Mettlers introvertiert murmelnde, oft geflüsterte Stimme erzeugt dabei einen sogenannten ASMR-Effekt, also genau jene körperliche Kribbelreaktion, die auch der intime, ganz nah ins Mikro gesungene Pop von Billie Eilish hervorruft. An ihre prominente Kollegin, aber auch an experimentellere Verwandte wie Eartheater, Pan Daijing oder FKA Twigs erinnert Kee Avil nicht nur wegen ihres Faibles für Goth-Ästhetik und -Attitüde, sondern auch in einigen der zugänglicheren Tracks auf »Spine«. Das fast schon groovende »Do This Again« zum Beispiel ist eine Art Albtraumversion von Eilishs »Bad Guy«.

An anderer Stelle könnte Mettlers Avantgarde-Entwurf jedoch nicht weiter von Pop entfernt sein. »Showed you« trippelt und trappelt mit zittrigen Geräuschen und einzelnen Gitarrentönen um den Zuhörer herum – wie eine Spinne, die ihre Beute umgarnt. »Croak« schließlich entfesselt einen enervierenden Alarmton, der zur Fließbandschicht in einer Industrial-Rock-Fabrik voller knurpselnder, knirschender Arbeitsgeräusche ruft. Immer wieder schält sich aus den Sounds Mettlers weltmüder Gesang heraus, der nur scheinbar Halt anbietet in dieser Echokammer des verschütteten Unterbewusstseins.

Sie selbst habe sich in den zwei Jahren der Blockade unter den vielen Stör- und Ablenkungseinflüssen wie begraben gefühlt, sagt Mettler. Der an Knochen und Mark rüttelnde Elektroblues auf »Spine« illustriere daher auch ihren Prozess, sich selbst wieder auszubuddeln und zu spüren. Für so einen Kraftakt muss man sich schlank und sehnig machen – so wie dieses von allem Schnickschnack und Zierrat befreite Album einer außergewöhnlichen Künstlerin, deren zweiter Anlauf noch eindrucksvoller ist als der erste. Hoffentlich verschwindet sie nicht wieder. (8.2/10) Andreas Borcholte

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Kurz abgehört:

Jessica Pratt – »Here in the Pitch«

Auch die so wundersame wie wunderschöne Musik der US-Sängerin Jessica Pratt erinnert an Scott Walker, allerdings nicht an den experimentierwütigen späten, sondern den melodieseligen frühen. Pratts Songs sind Übungen in akustischer Transzendenz: Wie schon auf ihrem letzten Album »Quiet Signs« enthebt sie ihren Sound und Gesang von jeglicher Zeitzuordnung. Eine knappe halbe Stunde lang könnte man glauben, einer gerade wiederentdeckten Zeitgenossin von Brian Wilson zu Beach-Boys-Hochzeiten zu lauschen, einer Kollegin von Astrud Gilberto oder Judee Sill. Wie einst Wilson lässt auch Pratt durch Studiotechnik ihre Stimme so klingen, als stünde sie in einem riesigen Raum, was ein Gefühl der Liveübertragung, der Unmittelbarkeit und Nähe erzeugt. Das Betörende an den elaborierten, klassisch anmutenden Songwriting-Etüden zwischen Twee-Pop, Bacharach und Brasilectro ist, dass die 37-jährige Pratt mit ihrer Retro-Anmutung kein Mimikry betreibt, sondern schlicht den Stimmungen und Einflüsterungen ihrer offenbar sehr alten Seele folgt. Purer Eskapismus. Aber der gute. (8.0/10) Andreas Borcholte

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Kamasi Washington – »Fearless Movement«

Mit »The Epic« gelang es Kamasi Washington im Jahr 2015, Jazzmusik wieder anschlussfähig für den Mainstream zu machen. Es war ein Album, das Maßstäbe sprengte: 173 Minuten lang, eingespielt mit zwölfköpfiger Band, Chor und Streichensemble. Aber Washingtons Spiritual Jazz war auch eingängig, er verband die Denkmalpflege von John Coltrane und anderen Legenden mit der Hip-Hop-Kultur seiner Heimat Los Angeles. Eine Verbindung, die er auf seinem neuen Album »Fearless Movement« noch deutlicher ausarbeitet als bisher. Washington selbst will die Platte als eine Art Tanzalbum verstanden wissen, und sie klingt tatsächlich deutlich abgespeckt, auch in der Länge: Diesmal kommt er mit schlanken 86 Minuten aus. Auf Tracks wie »Asha the First« und »Computer Love« wird gerappt. Bei »Get Lit«, aufgenommen mit dem Musiker George Clinton, ist lupenreiner, entspannter Funk zu hören. Überhaupt groovt die Platte ganz ungemein, während Washington selbst sich im Vergleich zu seinen vorigen Alben mit Soli zurückhält. Wenn er dann doch ansetzt, vermag sein Saxofon noch immer die Welt aus den Angeln zu heben, aber wirklich intensiv und befreit wirkt sein Spiel erst auf dem letzten Track »Prologue«. Ohnehin wird man beim Hören der Platte das Gefühl nicht los, dass Washington, dem es eigentlich um die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks geht, sich hier selbst ein Gefängnis aus spirituellen Kalendersprüchen gezimmert hat. Mit Songtiteln wie »Road to Self« und »Lines in the Sand« könnte er jedenfalls fast schon bei Yogafestivals auftreten. Was fehlt, ist der Wille zum Abstieg in die finsteren Tiefen der Seele, die sich bei John Coltrane ausdrückte, oder die politische Dimension der Selbstermächtigung, die bei »The Epic« noch hörbar schien. »Fearless Movement« dagegen ist eine stellenweise mitreißende, aber auch arg gefällige Angelegenheit. (6.0/10) Oliver Kaever

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Mdou Moctar – »Funeral for Justice«

Die Musik des Tuareg-Gitarristen Mdou Moctar und seiner Band ist genauso explosiv wie die Lage in seinem Heimatstaat Niger. Nach einem Putsch im vergangenen Jahr hat sich die einstige Kolonialmacht Frankreich aus dem Land in der Sahelzone zurückgezogen. Im politischen Chaos und Terror der Militärjunta lauern Russland und China darauf, mehr Einfluss in der Region auszuüben. Moctar und sein stürmischer Wüstenrock wurden 2021 mit dem Album »Afrique Victime« einem größeren Publikum bekannt, der virtuose Afrikaner wurde mit Jimi Hendrix und seinem erklärten Vorbild Eddie Van Halen verglichen. Auf »Funeral for Justice« nutzt er die internationale Aufmerksamkeit nun einerseits für noch vehementere, furiose Entfesselungen von Rhythmen und Riffs, andererseits aber auch für klare politische Botschaften: »Imouhar« appelliert eindringlich an die Tuareg, ihren vom Aussterben bedrohten Dialekt Tamasheq zu bewahren, »Sousoume Tamacheq« macht auf die Armut und Unterdrückung des hauptsächlich auf Niger, Mali und Algerien verteilten Volks aufmerksam. »Oh France« und »Modern Slaves« sparen nicht an Kritik an der scheidenden Hegemonialmacht Frankreich, das Titelstück will zudem die Führer afrikanischer Staaten wach rütteln, sich der Kontrolle über die von aller Welt begehrten Rohstoffe und Ressourcen ihrer Länder selbst zu ermächtigen. Mdou Moctar wird damit zur wohl lautesten und einflussreichsten Stimme postkolonialer afrikanischer Rockmusik. Und tanzen kann man auf diesem Vulkan auch noch. (7.8/10) Andreas Borcholte

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